Seit Jahren beobachte ich, wie ich schneller an meine Kraftreserven komme. Manchmal fühle ich mich selbst in Situationen schnell überlastet, in denen ich faktisch nicht viel zu tun habe.
In Gesprächen mit anderen – Gründern, aber auch ganz “normalen” Leuten – höre ich das gleiche. Am Alter oder meiner persönlichen Situation allein kann es also nicht liegen.
Irgendwann habe ich den Begriff “Kollektiver Burnout” aufgeschnappt. Ich muss ihn schon kaum erklären um bei meinen Gesprächspartnern schnell zustimmendes Kopfnicken zu ernten.
Ich glaube, da spielt eine Menge mit rein und es gibt keine einfache Erklärung und erst Recht keine Lösung dafür. Im folgenden führe ich die für mich damit zusammenhängenden Aspekte ungeordnet auf. Das hat mir in der Vergangenheit schon geholfen, die Dinge strukturierter weiterzudenken.
Kontinuierliche Selbstbestimmung
Noch nie hatten wir so viele Möglichkeiten. Damit verbunden ist aber der ständige Druck, Entscheidungen treffen zu müssen.
Wir können nicht einmal nichts tun, um allen Entscheidungen aus dem Weg zu gehen. Es heißt ja auch so schön: Nichtstun ist auch eine Entscheidung.
Früher gaben die wenigen Fernsehsender das Programm vor. Heute müssen wir in Streamingdiensten und Mediatheken aktiv wählen, womit wir uns die Zeit totschlagen.
Wir können wählen, welche Cookies wir zulassen und uns bei jeder Webseite individuell durch eine Liste von hundert Anbietern scrollen.
Wir können im Job selbstbestimmt arbeiten, unsere Ziele festlegen und diese kooperativ mit anderen angehen. Damit wird dann aber auch jede Handlung als aktive Entscheidung bewertet, was den Druck deutlich erhöht.
Alle sind Manager
Die neue Freiheit führt im Job nicht nur dazu, dass wir viel mehr Entscheidungen treffen, wir müssen das auch in Kooperation mit anderen tun. Immer mehr wird uns abverlangt, dass wir andere Managen.
Aber kaum jemand lernt das!
Nur, weil wir alle einen Mund zum Reden haben heißt das nicht, dass wir andere Anweisen oder Führen können. Kaum jemand ist ein Naturtalent, was das angeht.
Wir arbeiten immer weniger in großen Strukturen mit klaren Regeln und Hierarchien. Alles ist jetzt dynamischer, was dazu führt, dass niemand mehr weiß, wie er im Team mit anderen arbeiten soll, sei es mit über- oder untergeordneten Kollegen.
Anspruchshaltung stresst alle
Vielleicht kommt es aus den Sozialen Medien, vielleicht von woanders, aber wir haben leider auch den Anspruch selbst zu entscheiden und managen zu können.
Das führt dann eben schnell zum Burnout.
Kein Wunder, wenn niemand mehr die Kraft hat, etwas neues zu schaffen, sich zu engagieren, oder die Extra-Meile zu gehen. Work-Life-Balance…
Hinzu kommen die gestiegenen Ansprüche an andere und uns selbst. Beispiel Kita und Schule. Alle gehen sich gegenseitig auf die Nerven. Eltern wollen sich überall einmischen, sind aber genervt, wenn sie sich engagieren oder mit ihrem Kind arbeiten sollen, oder “nur” fünf E-Mails pro Woche mit Updates bekommen. Erzieher und Lehrer haben tausend Programme zu verfolgen um die Kita oder Schule attraktiv zu machen, werden aber gleichzeitig von Behörden und Eltern und Schülern malträtiert.
Mangelnde Reflexion
Das Leben erscheint immer komplexer. Wir scheitern aber schon an einfachen Reflexionen. Wie oft erlebe ich Menschen in Situationen auf eine Art und Weise zu handeln, die sie kurz vorher noch bei anderen Menschen kritisiert haben.
Mein aktuelles Beispiel: Menschen beschweren sich gleichzeitig darüber, dass die Brötchen oder Handwerker teurer werden, kämpfen gleichzeitig aber teilweise rücksichtslos um eine eigene Gehaltserhöhung. Ich kann das auf persönlicher Ebene verstehen, sehe aber auch die Spirale, die das mit sich bringt.
Ein neues Problem ist das wahrlich nicht, verschärft aber die Wahrnehmung aller gesellschaftlicher Herausforderungen und erschwert die Lösung.
Ähnlich drehen wir uns im Kreis, wenn es um den Fachkräftemangel in gefühlt allen Branchen geht. In jeder Nachricht ist zu lesen, wie dann durch bessere Arbeitsbedingungen und Bezahlung mehr Menschen für diese Branche gewonnen werden sollen. Aber nie steht dort, aus welchen Branchen mit scheinbarem zu vielen Mitarbeitenden diese Menschen kommen sollen. Oder traut sich hier niemand von “Abwerben” zu reden, denn praktisch das ist es. Am Ende starten wir hier eine Spirale die nur hin und her schiebt, statt die Probleme globaler anzugehen.
Den Bestand abnutzen
In vielen Bereichen nutzen wir den Bestand ab, weil wir keine Zeit haben uns um alles zu kümmern was da ist oder schlicht kein Geld da ist.
Mieter sitzen auf alten Mietverträgen, wodurch Immobilienbesitzer kaum Geld in den Erhalt oder (Aus)Bau von Immobilien investieren können. Ich kann die Beschwerden beider Seiten verstehen.
Infrastruktur wie Brücken und Straßen halten dem wachsenden Verkehr nicht mehr Stand. Ich glaube, viele in den richtigen Stellen kennen das Problem und halten die Luft an in der Hoffnung, dass alles möglichst lange noch funktioniert. Zumindest so lange, bis irgendwo magisch viel Geld herkommt.
Wohlstand basiert auf Ausbeutung
Mir wird zunehmend bewusst, dass Wachstum und Wohlstand einzelner und einzelner Gruppen immer auf der Ausbeutung irgendeiner Ressource fusst. Dafür finden wir aktuell wie auch in der Geschichte ausreichend Beispiele.
- Billige Rohstoffe – z.B. durch Vorkommen im eigenen Land oder günstige Importe
- Billige Arbeitskräfte – im Extremfall sind das Sklaven; im besten Fall arbeitet Maschinen und Technologie (Roboter, KI) für uns
- Überschuss der Außenhandelsbilanz – mein Überschuss ist des anderen Verschuldung
Versiegen diese Vorkommen oder werden deutlich teurer, leidet auch der Wohlstand.
Das Ganze lässt sich auch auf die persönliche Ebene bringen. Ich kann lange und günstig bei meinen Eltern leben, aber deren Kosten steigen dadurch.
Gleiches trifft auf bezahlte wie unbezahlte Care-Arbeit zu. Auch Lehrer, die häufig mehr als 40 Stunden arbeiten um alles zu schaffen. Doch auch unbezahlte freiwillige Arbeit fällt hier hinein. Das war immer schon so und muss kein Grund zur Beschwerde sein. Wir sollten dennoch aufpassen, diese Ressource nicht zu verschleißen, da wir gerade in Deutschland nicht viele andere haben.
Suche nach einfachen Lösungen
Kein Wunder, dass Leute verstärkt nach einfachen Lösungen suchen. Aussteigen. Gemüse und am besten noch das eigene Haus selbst anbauen. Das Handwerk erhält neuen Charme. Endlich wieder etwas zum Anfassen.
Politiker mit einfachen Floskeln die sich mit einer Nachfrage selbst zerlegen. Aber niemand fragt. Alle hoffen, dass es doch so einfach ist.
Und Schuld sind natürlich die anderen.
War denn früher alles besser?
Meine Oma hat Vollzeit als Lehrerin gearbeitet und dabei auch noch drei eigene Kinder in einer Zeit und einem Land gehabt, wo auch noch die Klamotten selbst genäht werden mussten. Sie hat bis tief in die Nacht gesessen um alles zu schaffen und war froh noch vor 60 in den Ruhestand gehen zu können. Und trotzdem würde sie den Stress der “jungen Leute” von heute auch nicht mehr wollen.
Einfach mal sacken lassen…