In den vergangenen Wochen befasse ich mich wieder verstärkt mit der Frage der Berufsaussichten für Geisteswissenschaftler. Ausgelöst durch meine aktuelle Suche nach Mitarbeitern für eine Online-Redaktion, hat sich das Thema über private Diskussionen mit anderen Leidensgenossen erstreckt. Im Praktikum-Beitrag vor einer Weile gab es dann schnell einen Kommentar mit einem Link zu einem für Geisteswissenschaftler angsteinflößenden Artikel über die schlechten Jobchancen. Daher hier einmal ein paar Gedankenfetzen dazu.
Was „können“ Geisteswissenschaftler?
Wie ihr vielleicht von meinem Gründerlebenslauf wisst, bin ich studierter Geisteswissenschafter. Zur Entspannung bei Bewerbungsgesprächen mit anderen Geisteswissenschaftlern erwähne ich gerne, dass ich im Master etwas so praktisches wie Mitteleuropäische Geschichte des 19. Jahrhunderts studiert habe.
Schon vor über einem Jahr schrieb ich über die Chancen von Geisteswissenschaftlern sowohl im Beruf als auch als Unternehmer. Dabei habe ich die Ansicht vertreten, dass wir aufgrund der Studiensituation richtige Generalisten sind. Für besonders wichtig halte ich auch, dass man sich über seine generelle Fachrichtung hinausgehendes Fachwissen aneignet. Ich habe das zum Glück schon getan, als ich noch gar nicht Unternehmer werden wollte. Mir war aber klar, dass mir auch bei anderen Karierewünschen das Wissen um Präsentation, Wirtschaft und Recht helfen wird.
Das, was ich an Geisteswissenschaftlern schätze, ist ihre Neugier und Begeisterungsfähigkeit. Wer davon ausreichend mitbringt, kann sich später in jeden Job einarbeiten. Das schreibt ein Mitteleuropahistoriker, der jetzt Software für Webseiten programmiert…
Kriterien im Bewerbungsgespräch
Vielleicht hilft es dem ein oder anderen Leser mit angestrebtem oder abgeschlossenen geisteswissenschaftlichem Studium ja, wenn ich kurz schildere, welche verschiedenen Aspekte für mich auf der Arbeitgebersseite bei der Besetzung eines klassischen geisteswissenschaftlichem Jobs wichtig waren.
Begeisterungsfähigkeit und Neugier
Schon erwähnt, daher hier an erster Stelle. Begeisterungsfähigkeit ist nicht, wenn mir jemand erzählt, wie toll er das alles findet. Sie versteckt sich eher in kleinen Dingen wie einem Funkeln in den Augen. Das ist nicht einfach zu sehen wenn die Bewerber mehr Angst als notwendig mitbringen. Ich glaube auch, dass Begeisterungsfähigkeit viel mit dem Umfeld zu tun hat. Wenn jemand also persönlich ins Team passt, ist das schon ein großer Schritt in die Richtung dahin, dass er sich auch für die gemeinsame Entwicklung interessiert.
Erfahrung
Erfahrung in einem bestimmten Bereich – bei uns war es die Online-Redaktion – sollte nicht über den Charakter hinwegtäuschen, ist aber natürlich wichtig. Ich bin bisher mit der Einstellung an Ausschreibungen herangegangen, dass die Bewerber nur begeistert sein müssen und der Rest kommt von selbst. Das kam daher, dass ich nicht erwartet hatte jemanden geeigneten mit Erfahrung zu finden. Das war aber diesmal gleich mehrfach der Fall. Die Fähigkeiten gehen aber so auseinander, dass wir vielleicht gleich mehreren Kandidaten in verschiedenen Bereichen eine Chance geben können, wenn auch nicht allen mit einer festen Anstellung.
Die Erfahrungen kamen bei den meisten nicht aus dem Studium, sondern wurden nebenher erworben. Entweder in Form von Praktika oder Mitarbeit in Initiativen und eigenen Projekten.
Teamfähigkeit
Wer würde in seine Bewerbung schreiben, dass er nicht teamfähig ist? Richtig, niemand, daher ist hier besonders das Bauchgefühl wichtig. Da helfen dann schnell Gedankenspiele wie – was wäre, wenn die Person mir den ganzen Tag gegenübersitzt – oder – könnte die Person ein motiviertes Team führen? Nicht jede Position erfordert absolute Teamplayer, aber zumindest eine persönliche Nahbarkeit erleichtert die immer notwendige Zusammenarbeit um ein Vielfaches.
Ich persönlich freue mich sehr darauf, in Zukunft mit einem motivierten Team zusammenzuarbeiten. Das müssen natürlich nicht unbedingt Geisteswissenschaftler sein, aber ich freue mich auch sehr, wenn ich in einer für unsere Studienausrichtung hoffnungslosen Region eine Chance bieten kann.
Wenn ich mich jetzt bewerben müsste
Ein Bekannter mit sehr gutem Master-Abschluss hat nach etwa 360 Bewerbungen aufgegeben. Andere Kommilitonen haben nach einem oder mehreren Praktika einen Job erhalten, mit der Unterstützung von Mentoren an der Universität eine Chance bekommen oder machen jetzt noch einen Doktor. Die Lebensläufe für Geisteswissenschaftler sind alles andere als stringent. Auch ich habe mich noch im letzten Jahr aus Interesse auf drei mir förmlich auf den Leib geschneiderte Stellen beworben und nicht eine Einladung erhalten. Wenn ich nicht Gründer wäre, dann wäre ich jetzt was? Eine Selbstständigkeit wird bei Personalern wohl auch nicht immer als Vorteil, sondern eher als verzweifelter Versuch angesehen.
Ich denke, dass mir wahrscheinlich keine andere Chance übrig bleiben würde als die Region Vorpommern zu verlassen. Wahrscheinlich hätte ich aber auch noch einen Doktor gemacht, was mich ehrlich gesagt auch jetzt noch reizen würde. Die Zeit habe ich aktuell leider nicht mehr, würde sie aber nutzen, um parallel meinen Marktwert zu erhöhen und besonders viel praktisches zu lernen und zu netzwerken.
Fazit? Das überlasse ich euch in den Kommentaren.
360 Bewerbungen habe ich noch nicht hinter mir, aber es sind nunmehr 70 – immerhin in Berlin. Ich hab Germanistik studiert und Performance-Kunst gemacht… der Kampf um einen Platz auf dem inzwischen startup-durchfluteten Arbeitsmarkt ist insofern ziemlich hart geworden. Also suche ich mein Glück jetzt wohl auch in der Selbständigkeit und überlege, eine Redaktionsagentur zu gründen. Mit anderen Geisteswissenschaftlern, die auch einen Ausweg suchen;-) danke für deinen guten Artikel! Jan
Hallo Jan. Machen die Startups die Situation in Berlin schlimmer? Ich hatte mal vermutet, dass es dort eher noch Plätze für Absolventen gibt. Was macht eine Redaktionsagentur? In jedem Fall viel Erfolg!!!
Thomas
Ich denke schon, zumal hier inflationär Stellen geschaffen und wieder abgebaut werden, und ein verschwindender Anteil der Startups sich wirklich langfristig durchsetzt. Die Redaktionsagentur soll eine Gruppe von (Online-)Redakteuren für verschiedene thematische Bereiche versammeln… Zumindest mal versuchen, was möglich ist… Vielen Dank! Gruß
Hallo Thomas,
ich habe ebenfalls Geschichte mit sehr marktgerechter Vertiefung in Deutscher Geschichte ab 1848 in Verbindung mit Sportwissenschaften studiert. Nun bin ich Teamleiter in einer Schadenversicherung – völlig logischer Schritt :).
Meiner Erfahrung nach sind viele Unternehmen an den Eigenschaften der Geisteswissenschaftler interessiert – nur sind diese denkbar schlecht im Selbstmarketing. Neben denen von Dir bereits erwähnten Eigenschaften waren für mich folgende wirkungsvoll:
Bspw. sind Historiker Profis darin, Probleme aus verschiedensten Perspektiven zu betrachten, die Übersicht zu wahren und differenziert Schlüsse zu ziehen. Sie sind stark im konzeptionellen, analytischen und prozessualen Denken und bringen frische Ideen in verstaubte Wirtschaftszweige. Zudem sind Historiker geübte Schreiberlinge und Präsentatoren – was in Kombination mit Eloquenz heute definitiv Vorteile hat. Auch wird in grösseren Firmen die Eigenschaft des „Querdenkers“ durchaus geschätzt. Also mehr Mut und Selbstvertrauen beim Bewerben!
Weiterhin viel Erfolg wünsche ich Dir und Deiner Firma.
Danke für Deinen Artikel
LG
Chris
Hallo Chris,
vielen Dank für deinen ermutigenden Kommentar! Viele stellen ihr Licht wirklich zu tief unter den Scheffel. Andererseits sollte man sich auch nicht zu selbstbewusst als Querdenker vermarkten, weil dann wieder alle denken, dass man nicht geradeaus denken kann ;). Zumindest hatte ich bei meinen eigenen Bewerbungen vor langer Zeit mal das Gefühl.
Viele Grüße
Thomas
Als Europäische Ethnologin ist das so eine Sache – generell gibt es für mich, im redaktionellen Bereich, eigentlich genügend Stellen. Man müßte einen nur nehmen und aus Erfahrung kann ich sagen, dass die Jobbeschreibungen immer genauer werden, so dass Leute, die nicht genau aus diesem Fach, aus diesem Bereich kommen, einfach keine Chance haben. Quereinsteiger generell haben keine Chance und die Mühe, jemanden einzuarbeiten, macht sie ja keiner, denn es gibt selbst für den speziellen Job mindestens zwanzig Bewerber.
Liebe Ethnologin. Aus aktuellem Anlass kann ich das mit den vielen Bewerbern nur bestätigen. Aber einen eigenen Blog mit gutem Schreibstil haben die wenigsten. Also weiter so!
Ich hatte Psychologie studiert, mit 1er Abschluss und musste an die 80 Bewerbungen schreiben, ehe ich eine Stelle erhalten habe. Bekannten, die VWL studiert haben, ging es ähnlich. Obwohl man ja eigentlich denkt, dass dies Fächer sind, in denen es nicht allzu schwer sein sollte. Aber diese Sicherheit hat man vermutlich nirgends; man steht dann immer zu anderen in Konkurrenz, die schon berufliche Erfahrungen haben.
Und manche Stellen sind dann auch nur befristet, da darf man sich nach 6 Monaten wieder neu bewerben. Es ist nicht schön.
Das Thema wird auch in meinem Bekanntenkreis mehr und mehr diskutiert. Da lerne ich auch, dass VWL/BWLer wohl vermehrt gegen Mathematiker ausgetauscht werden.