Wer Geisteswissenschaften studiert (hat) kennt die Frage von Familie und Freunden, was man denn mit dem Abschluss machen wird. Ob Politik, Geschichte, Germanistik oder Fremdsprachen, wir alle sitzen im selben Boot das zu klein ist, als dass alle ihre Wunschposition als wissenschaftliche Mitarbeiter oder in den Medien oder Organisationen erhalten. Also müssen einige von uns in die Wirtschaft. Oder dürfen wir? Über meine Erfahrungen als Unternehmer mit geisteswissenschaftlicher Ausbildung.
5 Jahre klassische Geisteswissenschaften
Nach meinem Abitur und einem frühzeitig beendeten Studium der Germanistik, Psychologie und Wirtschaftswissenschaften in Jena bin ich nach einem Jahr Auszeit an der Uni Greifswald gelandet. Ausgangspunkt war mein Aufenthalt in Polen, nach dem ich mich motiviert fühlte Polnisch zu studieren. In meiner Geburtsstadt Greifswald gab es dazu einen Bachelor, der noch ein weiteres Zweitfach und Zusatzkurse in verschiedenen Hard- und Soft Skill umfasste.
Wahlmöglichkeiten nutzen
Ich habe als einer von wenigen mein Studium gerade aufgrund der vielen Zusatzqualifikationen gewählt, die andere für ein notwendiges Übel hielten. Mit zunächst Englisch, Rhetorik und Schriftkompetenz und Vorlesungen in Wirtschaft und Recht helfen mir eben diese Kurse bis heute.
einmal ganz raus kommen
Nach meinem Bachelor und einem weiteren Jahr Arbeiten in einer lokalen Umweltbildungsorganisation, habe ich einen Master für Mitteleuropäische Studien an der deutschsprachigen Andrássy Universität in Budapest absolviert. Das bedeutete ein Jahr komplett raus, einen tiefen kulturellen Einblick und weitere Zusatzfächer und Trainings.
Gelernt und gebraucht
Wie schon in den letzten Absätzen angeklungen, habe ich in Zusatzfächern viele wichtige Dinge gelernt. Besonders nachhaltig sind die Trainings in Rhetorik und Moderation, sowie in Öffentlichem und Privatrecht. Ein Grundverständnis für juristische Themen hilft in jeder beruflichen Laufbahn.
Gerade als Gründer sind zudem Fähigkeiten der schriftlichen und mündlichen Selbstpräsentation unabdingbar.
Auch mein Polnischstudium hat sich im Nachhinein nicht als Fehlinvestition herausgestellt. Zwar arbeite ich nicht mehr aktiv mit der Sprache, habe aber in den Jahren danach viel leichter einen Zugang zum slavischen Kulturraum erhalten und greife gerade im deutsch-polnischen Spannungsverhältnis immer wieder auf meine erworbenen Kenntnisse zurück.
Die Wahlfreiheit, die ich in geisteswissenschaftlichen Studiengängen erlebt habe, bietet jedem die Möglichkeit, Fähigkeiten nach seinen Interesse zu erlernen. Wer diese bewusst nutzt, der kann nachhaltig davon profitieren.
wichtige Soft-Skills
Neben den Dingen, die ich direkt im Studium gelernt habe, habe ich auch viele Sachen durch das Studium, also durch die Abläufe und Organisation gelernt.
Das wichtigste ist die Eigenschaft, sich schnell in neue Sachverhalte einzuarbeiten und diese verarbeiten zu können. Gerade das Web ändert sich so schnell, dass man sich ständig neu orientieren, Chancen erkennen und bewerten muss. Die Vorlieben der Dozenten werden dann zu den Vorlieben des Marktes, aber ansonsten ähneln sich die Muster. Da ich immer schon jemand war, der begeistert neues gelernt hat, kann man sich vorstellen, wie sehr ich in meiner Tätigkeit als Webentwickler und den vielen spannenden Projekten aufgehe.
Zu den Soft-Skills die von Geisteswissenschaftlern quasi automatisch erlernt werden gehören also Projektmanagement, Kommunikationsfähigkeiten, Analysefähigkeiten, Chancen-Risiko-Abwägung sowie mündliche und schriftliche Ausdrucksfähigkeit.
(k)einen Plan haben
Im meisten hat man vom geisteswissenschaftlichen Studium, wenn der Kariereweg schon vorher klar ist. Das war aber weder bei mir noch bei meinen Kommilitonen der Fall. Vielmehr wird das Studium eines „Interesses“ genutzt, um dieses später im Beruf ausleben zu können.
Ich selbst habe damals von der Stelle als Projektmanager in einer deutsch-polnischen Organisation geträumt. Mittlerweile kann ich mir das aber kaum noch vorstellen. Doch auch dazu bot mir mein Studium ausreichend Freiraum und ich konnte Qualifikationen erlangen, die jetzt universell zum Einsatz kommen. Geisteswissenschaftler sind eh klassische Quereinsteiger, was bei Juristen oder Medizinern schon seltener vorkommt.
Diese Flexibilität macht die Frage nach dem eigenen Berufbild nicht einfacher, eröffnet aber Möglichkeiten, die unsere Großeltern und Eltern nicht kennen.
Geisteswissenschaftler und Unternehmer?
Viele sehen einen Wiederspruch zwischen Geisteswissenschaftlern und Unternehmern. Warum sollten aber technische oder betriebswirtschaftliche Fächer besser geeignet sein?
Ich sehe dafür zwei Ursachen, die ich hier aber nur kurz anreißen möchte.
Geisteswissenschaftler als Chaoten
Die hohe Wahlfreiheit und das Studieren „aus Interesse“ führt auch dazu, dass viele das rechtzeitig Ende verpassen. Das Bild des Langzeitstudenten existiert auch in meinem Umfeld. Plötzlich zieht sich das Studium in die Länge, weil sämtliche Quellen zur Finanzierung des Lebensunterhaltes wegbrechen. Auf der Gegenseite betrifft das auch viele, die die Zeit in ihrem Studium für ein umfangreiches gesellschaftspolitisches Engagement genutzt haben.
Die dabei an den Tag gelegte Energie und Leidenschaft macht gute Unternehmer aus. Doch stattdessen werden die Geisteswissenschaftler nie aktiv in unternehmerische Aktivitäten eingebunden. Businesswettbewerbe werden z.B. besonders an technischen und betriebswirtschaftlichen Instituten beworben.
Eine andere Sicht, die definitiv auf mich zutrifft, ist die Wissbegierigkeit von Geisteswissenschaftlern. Diese ist häufig universell und nicht nur auf das eigene Fach begrenzt. Dazu gehört auch eine Offenheit gegenüber allem neuen. Wer hätte damals gedacht, dass ich mal Gründer oder sogar Programmierer werde?
Unternehmer sind unsozial
Zwischen den Weltanschauungen von „BWLern“ und Geisteswissenschaftlern klaffen große Lücken. Den einen geht es um Geld und Konsum, bei den anderen steht ein idealistisches Lebensziel im Mittelpunkt. Verständlich, dass bei solchen Klischees ein Ausbrechen mit Argwohnen betrachtet wird. Aus meinen Erfahrungen kann ich sagen, dass ich mir nie den Karriereweg eines Unternehmers hätte vorstellen können. Dennoch habe ich im Rahmen von ehrenamtlichen Projekten meist genau so gehandelt, schon in meiner Schulzeit wirtschaftlich erfolgreiche Schülerbälle organisiert, im Studium ein Projekt zur Organisation von Klassenfahrten, eine studentische Teestube und eine GbR gegründet.
Rückblickend ist es für mich selbst interessant zu sehen, wie ich zwar die Idee verfolgt, aber den unternehmerischen Erfolg und die klare Zielsetzung außer acht gelassen habe. Nach außen legitimierten sich die Projekte durch ihre sozialen Inhalte, aber nicht aufgrund unternehmerischer Ansätze.
Mittlerweile trenne ich nicht mehr zwischen sozialen und unternehmerischen Ansätzen. Zwar muss nicht jede Unternehmung sozial sein, aber ich habe den Wert der Identifikation mit einem Unternehmen erkannt.
sollten Geisteswissenschaftler gründen?
Ich glaube, dass mehr Geisteswissenschaftler das Zeug zu guten Unternehmern haben, als es derzeit wissen. Das bedeutet aber natürlich nicht, dass jeder ein Gründer ist. Zum Glück gibt es im Studium ausreichend Zeit sich auch als Gründer auszuprobieren.
Es gibt jedoch nicht zuletzt dank des Internets und der zunehmenden Kommunikation viel mehr Berufsfelder für Geisteswissenschaftler. Ein spezifisches sehe ich im SEO, also der Suchmaschinenoptimierung. Die sogenannten SEOs müssen Chancen und Möglichkeiten finden, auswerten und stets neue und kreative Ansätze finden. Leider konnte ich bisher zu wenige meiner Kommilitonen davon überzeugen 😉
Mehr Geisteswissenschaftler in die Wirtschaft? Was denkt ihr darüber? Seid ihr Unternehmer mit geisteswissenschaftlichem Hintergrund oder studiert ihr ein geisteswissenschaftliches Fach und sucht noch nach dem passenden Berufsbild? Ich freue mich auf eure Kommentare.
Hi Thomas, ein sehr gutes Thema das mich auch lange beschäftigt hat. Ich denke Geisteswissenschaftler sind aufgrund des Studiums als Generalisten zu sehen, die sich schnell in neue Situationen reindenken können. Das ist eine wichtige Voraussetzung, um mit den alltäglichen Gründungsherausforderungen umzugehen. Leider sehen die meisten Geisteswissenschaftler diese Möglichkeit garnicht, da die Gründungsoptionen an den Unis hauptsächlich den Wirtschaftsstudenten angeboten werden.
BTW: Ich habe Sozialwissenschaften studiert 😉
Hallo Dirk, ich glaube das wird uns auch immer wieder beschäftigen 😉 Generalisten ist auch eine gute Beschreibung und meiner Ansicht nach die wichtigste Anforderung in der Zukunft. Und „Lebenslanges Lernen“ ist für uns keine Phrase, sondern normaler Alltag.
Hi, wie siehst Du denn die Chancen für Geisteswissenschaftler im Allgemeinen einen gutbezahlten Job zu finden?
Und zweitens, gibt es eine gute betriebswirtschaftliche Zusatzausbildung für Geisteswissenschaftler?
Das kann ich beides nicht abschließend beantworten. Ich habe Geisteswissenschaftler getroffen, die gute Jobs haben und welche, die keine (guten) haben. Klingt abgedroschen, aber Flexibilität ist hier besonders wichtig und eine Idee von dem, was man will.
Ich selbst habe mich mal nach einer Zusatzqualifikation im Bereich BWL umgeschaut, aber Fernstudium war das nächste, was in Frage kam. Lokale Angebote an Volkshochschulen oder auch in Gründerzentren waren mir nach etwas Praxiserfahrung dann wieder zu einfach. Hier gilt es sich sehr genau anzuschauen, wer was referiert.